Kanye West ist grade auf einem heiligen Kreuzzug gegen die Musikindustrie, die er vorgestern als "modernes Sklavenschiff" beschrieben hat. Er selbst sei der "neue Moses" und heute Nacht hat er seinen Darstellungen ordentlich Nachdruck verliehen. Er hat zunächst mehr als 100 Seiten seiner Verträge mit Universal und Sony auf Twitter geteilt und später ein provokantes Bild mit Symbolkraft geliefert, das in Erinnerung bleiben dürfte: Er pinkelt in einem Video auf einen seiner 21 Grammy Awards, den er in einer Toilette versenkt hat. Reaktionen kommen auch aus dem Deutschrap-Kosmos.
Trust me ... I WONT STOP pic.twitter.com/RmVkqrSa4F
— ye (@kanyewest) September 16, 2020
Kanyes Kampf gegen die Musikindustrie
Das mag im zunächst für manche massivst over-the-top wirken, aber es stellen sich langsam immer mehr Menschen an Kanyes Seite. Der Inhalt, also seine Forderung nach gerechteren Verträgen und den Master-Rechten für entsprechenden Künstler*innen, scheint für einige nicht nur legitim, sondern auch notwendig zu sein.
Ganz konkret spricht er in diesem Zusammenhang die fehlenden Einnahmen durch Konzerte an, die durch die Covid-19-Pandemie wegbrechen und Löcher in die Taschen vieler Kulturschaffender reißt. Oftmals heißt es, Corona sei ein Brennglas, das uns zwingt, lange ignorierte Missstände endlich anzugehen. Diese Metapher passt auch hier:
The artist deserve to own our masters ... artist are starving without tours ... Ima go get our masters ... for all artist ... pray for me
— ye (@kanyewest) September 16, 2020
Unter anderem Producer Kenny Beats supportet Yes Vorstöße. Er sagt, insbesondere Schwarze Künstler*innen bräuchten mehr Schutz in der Musikindustrie. Die meisten Labels hätten außerdem kein Problem damit, junge Menschen mit Verträgen in eine hartnäckige Falle zu locken.
What Kanye said about these contracts is true .. something needs to change in the infrastructure of the music industry to protect artists & specifically Black artists .. most of these labels see 0 problem w letting you sign your life away at a young age without any protection https://t.co/4fnRN1uYkU
— kennybeats (@kennybeats) September 16, 2020
Auch Hit-Boy, auf persönlicher Ebene kein Fan von Kanye, fühlt die Message. Seit dem Alter von 19 Jahren fühlt er sich in seinem Vertrag mit Universal Music Publishing gefangen. Seine Anwält*innen hätten diesen als den "schlimmsten Publishing Deal, den sie je gesehen haben" beschrieben.
From HITBOY LETS GOOOOO pic.twitter.com/Wi9Kk71lzf
— ye (@kanyewest) September 16, 2020
Der Rapper Logic berichtet von ausbleibenden Zahlungen – etwa an Lil Wayne – auf die er nach wie vor von Def Jam wartet:
I feel you, Def Jam ain’t tryin a pay @LilTunechi his fee so I guess the perfect remix aint coming out.... owe a few of my folks they money honestly. https://t.co/Syrpnj56zr
— Bobby Bathroom Break (@Logic301) September 17, 2020
Kanyes Mittel haben häufig, so auch jetzt, eine unweigerliche Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-Attitüde, die polarisiert. In der Form kann man aber erstens kaum Zurückhaltung von jemandem erwarten, der nicht nur einen Song namens "I Am A God" im Katalog hat, sondern sich auch schon als Yeezus oder eben New Moses bezeichnet hat. Zweitens ist es leider einfach so, dass man mit netten Hinweisen und Vorschlägen selten so schnell Fortschritte erzielt wie mit dem Brecheisen – Kanyes Werkzeuge sind seine Reichweite und sein damit einhergehender Einfluss. Zudem sollte man nie vergessen, dass seine bipolare Störung alles andere als ein Witz ist, über den man sich allzu sorglos amüsieren könnte (mehr dazu in unserem Artikel aus dem Juli).
Kanye Wests Twitter-Meltdown: Eine bipolare Störung ist kein Witz
Seit Kanye West seine Kandidatur für die US-Präsidentschaftswahl bekanntgegeben hat, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Statements, Auftritte, Postings...
Own your Masters, das ist die Message!
Kanye will sein Volk aus der ägyptischen/musikindustriellen Unterdrückung führen, in das Land, wo Geld durch Master-Rechte fließt – nämlich auf die Konten der Urheber*innen. Was er erschaffen hat, soll in der Zukunft seinen Kindern zugutekommen und nicht den Sprösslingen derer, die Musiker*innen in verlockende Verträge lotsen, deren Rattenschwanz sie nicht einschätzen können.
Everyone please cover me in prayer ... I AM ONE OF THE MOST FAMOUS PEOPLE ON THE PLANET AND UNIVERSAL WONT TELL ME WHAT MY MASTERS COST BECAUSE THEY KNOW I CAN AFFORD THEM ... BLACK MASTERS MATTER
— ye (@kanyewest) September 16, 2020
MY CHILDREN WILL OWN MY MASTERS ... NOT YOUR CHILDREN ... MY CHILDREN ... MY CHILDREN ... MY CHILDREN
— ye (@kanyewest) September 16, 2020
This is how it be when artist try to get our masters ... the stairs are covered with lotion pic.twitter.com/1pyNK0xkWW
— ye (@kanyewest) September 16, 2020
We’ve gotten comfortable with not having what we deserve ... they allow us to have a little money from touring get some gold chains some alcohol some girls and fake numbers that feed our egos ... but we don’t own our masters
— ye (@kanyewest) September 16, 2020
When you sign a ‘BAD’ music deal you sign away your rights. If you’re doing this in some way help younger, smaller artists look out for themselves then great but if you signed with a major and are shocked you don’t have as much freedom as you’d like, that’s on you man
— Jeremiah Fraites (@jeremiahfraites) September 16, 2020
Einen Trend weg von der Bündelung diverser Rechte, Kompetenzen und Entscheidungsgewalten unter dem Dach der größten Labels meint man seit einiger Zeit beobachten zu können. Es ist sicher auch eine Typfrage, ob man die Vorzüge eines Majors über die komplette Unabhängigkeit stellt. Sido beispielsweise fühlt das 360-Grad-Paket schon seit langer Zeit:
Wenn Kanyes Plan aufgeht, bringt er die Industrie dazu, sich auf die Künstler zuzubewegen. Man darf aber in almanesker Korrektheit nicht vergessen: Unter jedem Vertrag, über den Kanye sich heute beschwert, steht seine Unterschrift. Ein solches Dokument sollte man nur mit Weitsicht unterschreiben und gerade in Kanyes Größenordnung auch durch Fachkundige prüfen lassen. Das David-gegen-Goliath-Narrativ von einem Milliardär zu hören, der nicht mehr mit Entscheidungen zufrieden ist, die er vor Jahren selbst getroffen hat, hat durchaus eine ironische Note.
Transparente DIY-Vertriebe wie beispielweise TuneCore, bei denen man 100 % seiner Einnahmen und Rechte behält, gewinnen auch für prominente Acts immer mehr an Attraktivität. Grade Einsteiger können bei solchen Modellen ein frühes Abhängigkeitsverhältnis umgehen und später überlegen, ob sie nicht doch einige Rechte gegen die Dienste eines Majors eintauschen möchten. Außerdem haben Künstler*innen und Managements 2020 ganz andere Optionen, mit Vertrieben, Labels oder Verlagen zusammenzuarbeiten als noch vor einigen Jahren.
Reaktionen auf der Deutschrap-Szene
Der deutschsprachige Rapkosmos zeigt sich bislang weitgehend erheitert von der jüngsten Twitter-Offensive. Die Jungs von K.I.Z antworteten (vermeintlich als Spaß), sie würden Kanye ihren Vertrag zuschicken. Celo & Abdi reagieren gewohnt humorvoll und wollen Ye zu 385i holen, sie würden ihre Rechnungen immer pünktlich begleichen.
We will send it to you https://t.co/Bb6WNf9lf9
— K.I.Z. (@K_I_Z_) September 15, 2020
you have schmodder-contract, come to 385i and thank us later @385ideal @universal_max @UmusicGermany https://t.co/DK2U9O0YjK
— Celo & Abdi (@CeloundAbdi) September 16, 2020
we pay bills on time
— Celo & Abdi (@CeloundAbdi) September 16, 2020
Olson ist mehr der Pragmatiker:
Bro wie hast du den da wieder rausbekommen?
— olson (@hellyeaholson) September 16, 2020
Juju und RIN zeigen sich amüsiert:
Hahahaha
— Juju (@jujuviervier) September 16, 2020
— Rintintin (@Rinthething) September 16, 2020
Das letzte Wort in dieser Sache – und das verdeutlicht Kanye vehement – ist erst gesprochen, wenn er seinen Willen bekommen hat. Dass er sich in seinem Freiheitskampf als "Baby Putin" bezeichnet, wäre wohl unter normalen Umständen das Gesprächsthema. Nur ist seine Twitter-Aktivität von normalen Umständen weiter entfernt als Hit-Boy von einem zufriedenstellenden Publishing Deal und so bleibt dieser zynische Vergleich vorerst nur eine Erinnerung daran, dass Ye-Tweets mit Vorsicht zu genießen sind.
TRUST ME I WONT STOP UNTIL ALL IS FAIR TRUST ME FROM NAT YE AKA BABY PUTIN
— ye (@kanyewest) September 16, 2020