Kunst über Zeitgeist: OG Keemo "Mann beisst Hund" (1-Listen-Review)
Links: "Mann beisst Hund"-Art von OG Keemo | Rechts: Cover Artwork

Die Momente, in denen man nach über 7 Jahren Hiphop.de noch von Deutschrap (positiv) geflasht wird, sind rar. Sehr rar. Ja, es war'n paar lange Wochen, doch nun ist ein Album erschienen, an das ich eine unfaire Erwartungshaltung hatte. "Mann beisst Hund" von OG Keemo und Funkvater Frank.

Disclaimer vorab: Was in diesem Artikel passiert, will, kann und soll gar nicht objektiv sein. Es ist die aufrichtige Wahrnehmung eines Rap-Fans, der ein heiß erwartetes Album zum ersten Mal hört. Dabei wird massiv gespoilert. Meine persönliche Empfehlung wäre es, sich das Album in Ruhe und am Stück anzuhören, so wie die Künstler es sich gewünscht haben.

Genau das habe ich getan, allerdings mit längeren Pausen, um live meine Gedanken festzuhalten. Bislang habe ich auch den Kontext fremdgehalten: Ich kenne noch kein Interview zum Album, habe aber natürlich den Pressetext von Chimperator gelesen - dem Label, das diese Platte mit für den heutigen Zeitgeist bemerkenswerter Geduld möglich gemacht hat. Muss man auch mal loben.

Dabei sind mir sicher einige Punkte entgangen und allein das finde ich schon geil, weil es sich hier um Kunst handelt, mit der man sich länger beschäftigen kann als bis zur nächsten Single kommenden Freitag. Wir sprechen von einem ALBUM, das von Grund auf als solches konzipiert wurde - eins der letzten seiner Zucht. Szenischer Einstieg, großes Finale, stilistische Leitplanken, ein Film, der sich vor dem geistigen Auge abspult, während die Skits, Lines und manche Key Tracks Bilder auf die Innenseite der Stirn projizieren. Sowas will gewürdigt werden - und sei es nur mit einem Gedankenfluss, der sich Track für Track ergießt ...

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1. Anfang | produziert von Funkvater Frank

Ok, Anfang schon mal episch für mich. Geil gerappt, szenischer Einstieg, habe direkt einen Film vor meinen Augen. Die erste Sonntagnacht in einer neuen Stadt, jemand (Karim? Keemo?) lernt einen zwielichtigen Dude kennen, er stellt sich als der bereits bekannte Malik heraus. Der nächste Charakter namens Yasha wird auch schnell introduct: komischer Kautz, tote Augen, steht auf Gras, Alk und Tipico. Jetzt wird wohl zu dritt ein Civic geklaut ...

2. Civic | produziert von Funkvater Frank

Ein Bläser-Sample, das mindestens ein halbes Jahrhundert alt sein könnte, wieder die Stimme aus dem Intro, dann Funkvater-Bass. Die Hi-Hats kommen von hinten - schneller als gedacht. Ok, der Bounce ist da, um bei 15 km/h Rauchschwaden aus einem überfüllten Civic zu blasen. Unerwartete Chords. Das ist doch wohl nichts von Sido? Ne, würde Franky nicht samplen. Ist wohl auch nicht gesampelt, sondern normal eingespielt. Wird trotzdem einer dieser Sounds sein, die ich nicht aus dem Kopf kriege, bis ich weiß, woran es mich erinnert. Doch, „Mein Block“ muss es sein. Beabsichtigte Ähnlichkeit? Wäre ihnen zuzutrauen, aber wir werden es nie erfahren.

3. Hund Skit | aufgenommen von Jens Baumgart

Jetzt sitzen die drei vermutlich zusammen im gerippten Auto. Wir erfahren mehr über Yasha. Der Bruder muss relativ gleichgültig und triebgesteuert sein. Im Hintergrund läuft wieder ein Soul-Song, den wahrscheinlich neben Franky nur 55 andere Menschen weltweit im Plattenregal stehen haben. Yasha erfüllt nur seine Rolle, wenn du Malik fragst. Es geht um Vorbestimmung, den Platz in der Welt, den alle von uns einnehmen, ob bewusst oder unbewusst. Wir sind alle Hunde sagt Malik. Da steckt eine größere Metaphorik dahinter. An der Stelle setzt die Clap ein, die ich letztes Jahr schon locker 100 mal gehört habe ...

4. Malik | produziert von Funkvater Frank

Ich höre den Song trotzdem durch, die Jungs wollten es so. Malik ist der Bad Guy, er kann alles besorgen, aber hat nichts zu verlieren.

5. Big Boy | produziert von Funkvater Frank

"Big Boy" ist der letzte Titel im äußersten der vier halben Kreise, in denen die Songtitel auf der Rückseite der CD-Hülle angeordnet sind. Muss nichts bedeuten. Direkt schriller Sound, who him is? Es ist der Big Boy. Dürfte Boombap rein vom Rhythmus her bislang am nächsten kommen, die Hook hat auch Scratches. Dann spricht jemand von einem typen aus dem siebten Stock, da wohnt doch Malik? Spricht jetzt jemand anders? Derjenige hört auf jeden Fall „Flockaveli“ Song #13 - das ist nice gemacht. Kurz nachgucken: „For My Dawgs“, klar.

In allen drei Charakteren scheinen Eigenschaften vom echten Karim Martin aka Keemo zu stecken, so lebhaft, wie jeder einzelne inszeniert wird. Eigentlich waren das hier zwei Songs, seit der Hälfe ist es ruhig geworden – Madlib- und Alchemist-mäßig ruhig. Nicht ungewöhnlich, dass mal zwischendurch das Tempo rausgenommen wird. Auf „Geist“ folgte der „Belly Freestyle“, zwischen „Tag 7“ und „Trap“ gehört auch heute noch der „Nani“-Skit, selbst auf der keine 12 Minuten langen EP „Otello“ ließ Franky mittendrin für 30 Sekunden die Vögel zwitschern. Was passiert als nächstes?

6. Vertigo | produziert von Funkvater Frank

Ein französischer Einwurf des Kommentators, dann Piano, das gefühlt mitten im Loop abgewürgt wird. Ich erwarte irgendwie 00er-Jahre-Banlieue-Sound. Bekomme ich natürlich nicht. Das ist der erste Song, der mir Bilder von kommenden Konzerten in den Kopf malt, weil OG Keemo (jetzt auf Apple Music streamen) nach und nach mehr Fahrt aufnimmt, während der Beat Platz lässt, dass man genau zuhören kann. Kann dran liegen, dass ich heute noch das „55 - Interlude“ gehört habe, aber der Track hier scheint sich oft darauf zu beziehen. Jemand soll springen - „Er sagte mir damals, er wollte als Junkie nicht leben und sprang aus dem Zehnten“, hieß es auf „55“. Das Interlude ist übrigens auch der Song, auf dem die Phrase „Mann beisst Hund“ von Keemo schon vor diesem Album gedroppt wurde. Kann man fast als eine Art Trailer sehen. „MBH“ zoomt herein auf das, was im „55 - Interlude“ mit rasantem Flow und unfassbarer inhaltlicher Dichte erzählt wurde: alle Facetten der Siedlung.

7. Mann Skit | aufgenommen von Jens Baumgart

Der nächste Skit, wir kommen vom Hund zum Mann. Das filmische Konzept funktioniert. Wieder redet jemand, das dürfte jetzt Yasha sein, er ist deutlich nachdenklicher. Die Dialoge sind authentisch und könnten glatt aus einem 90er-Jahre-Arthouse-Klassiker über das Großwerden im Block tammen. Ich sehe eine Szene, in der ein paar Jungs grade Scheiße gebaut haben. Sie sitzen im Auto, mit dem sie vom Ort des Geschehens geflüchtet sind und wähnen sich in Sicherheit, was mit ein bis zwei eher pragmatisch zusammengekleisterten Joints gefeiert wird. Yasha sitzt auf dem Beifahrersitz, während er Malik und dem unregelmäßig von der Rückbank zustimmenden Karim eine straßenphilosophische Lektion in Sachen moralischer Evolution von Mann und Hund erteilt. Mal schweift sein Blick aus dem Fenster, dann dreht er sich zu den beiden um, um sich ihrer Aufmerksamkeit zu vergewissern und um seinen Standpunkt zu untermauern. Am Ende muss ich an „The Art of Peer Pressure“ denken. Vielleicht hätten die Jungs ihren Moms sagen sollen, dass sie gleich ihre erste Offense mit den Homies catchen.

8. Suplex | produziert von Funkvater Frank

Vollkommen verständlich, dass man dieses Album am Stück hören soll. Der Kommentator (auf dem Papier-Bändchen um die CD-Hülle als „General Micki auf Frankfurt am Main“ vorgestellt) führt durch den Movie. Auch wenn es oft nur Wortfetzen sind, die man nicht mal unbedingt versteht, sorgt das für einen roten Faden, der in jeder Playlist außer einer namens „Mann beisst Hund“ verloren gehen würde. Die Songs sind nicht fürs Streaming, sondern als Teile eines großen Ganzen erschaffen worden. Es geht wild los, der Beat wird böse werden. Eine schlechte Imitation von Schussgeräuschen. Mit jedem „Bambabam“ klingt es mehr wie ein Hund, der sein Gesicht nicht fühlen kann. Die Nummer wird live anders eskalieren.

9. 2009 | produziert von Funkvater Frank

Romantisches Sample, sanfter warmer Bass, erstmal wieder zurücklehnen. Keemo macht Gangsigns wie die Ginyu Force. Wild wie Funkvater Frank mittendrin das Titschen eines Basketballs passend zum Thema einbaut. Aber das ist 'ne andere Story. Nach dem Court wird dieses Mal keine gute Partie Uno, sondern Schach mit Papa gespielt.

10. Petrichor ft. Sumpa | produziert von Funkvater Frank

Was für eine geile Stimme hat Sumpa eigentlich? Eine ordentliche Kelle RnB wirft mich ins Jahr 2007 zurück. Die experimentelle Verspieltheit der anderen Songs weicht einer zielgerichteten Vollmundigkeit, der Sound vibriert im ganzen Raum und Keemos Stimme klingt verletzlicher, er tangiert fast die Grenze zum Gesang. Nur fast.

11. Regen | produziert von Funkvater Frank

Auf Petrichor folgt der Regen. Fair enough.

12. Sandmann | produziert von Funkvater Frank

Auch einer der eskalativeren Gangart. Und die Punchlines kommen. Ein legendärer Pop-Art-Künstler wird gedroppt als wäre es nothing, ich muss laut lachen und schicke die Line Freunden bei WhatsApp. Ich verliere ein bisschen den roten Faden, aber schadet dem Hörgenuss nicht, wenn ein Song auch mal einfach nur hart slappt. Am Ende hört man dann wieder den General aus FFM ich glaube wir kehren zum Film zurück.

13. Vögel | produziert von Funkvater Frank

Jap. Ein Schloss wird per Knopfdruck gelöst. Eindeutig kein Einfamilienhaus, dafür hallt das Öffnen der Tür zu lange im Hausflur nach. Jemand geht herein und ein in die Jahre gekommenes Stahlseil zieht wacklige anderthalb Quadratmeter in die Höhe. Das mutmaßlich mit einem Schlüssel zerkratzte Schild schätzt optimistisch, dass hier vier Personen reinpassen sollen. Wände voller Tags und dazwischen ein Duft, der Zigaretten, Menschenschweiß, Urin und irgendwas besser nicht genau Definiertes zu einem grauenhaften Meisterwerk vereint. Da sind gerade Mal 12 Sekunden vorbei und es laufen schon wieder etliche Frames über die Leinwand in meinem Kopf. Es sind Kleinigkeiten, denen man anmerkt, wie sehr Keemo und Funkvater Frank das hier zu einem Film machen wollten. Erfolgreich! Musik gibt’s auch. Dramatische Streicher, eine sehnsüchtige Gitarre, Keemo will jemanden ins Nimmerland schicken. Die folgenden Schilderungen aus der Jugend klingen zu detailliert, um gänzlich ausgedacht zu sein. Fiktion und Realität verschwimmen wie einst Spaß und Ernst bei den Delikten, von denen er erzählt. Keemo rekapituliert den Weg vom Opfer zum Täter. Das dürfte des längste Song der Platte werden, bei Autobiografischem läuft Karim Martin zur Höchstform auf. Ich bin noch gespannt, was der Songtitel zu bedeuten hat. Da steckt eine Freihheitsstrafe im Handschuhfach. Angstattacken. Verschwendetes Potenzial. Enttäuschte Hoffnungen eines Vaters, der vor Jahrzehnten seine Heimat verlassen hat. Wacklige Beine auf dem Weg in den Zehnten. Wow, harter Tobak. Die letzten drei Minuten nur noch Gänsehaut.

14. Ziller ft. Gianni Suave | produziert von Funkvater Frank & Minhtendo

Kein Comic Relief, doch die Stimmungskurve zeigt nach oben. Der Kopf nickt, aber diese „Vögel“ mit gestutzten Flügeln haben mich noch in ihrem Bann. Er hat nie gesungen, Hoe, er macht Playback und damit sind wir back in angestammtem Keemo-Punchline-Terrain. Der Flow ist wild. Das hatte sich schon in „Malik“ abgezeichnet und es zeigt sich immer wieder im Verlauf des Albums: Keemo will alles, aber nicht auf der Stelle treten. Ah geil, in der Hook kommt Giannis Stimme suavemente rein für ein paar Sekunden.

15. Töle | produziert von Funkvater Frank

Wenn ich schon damit anfange, große Assoziationen in den Raum zu werfen, dann bin ich jetzt bei Cole und „4 Your Eyez Only“. Auf dem Album verschwimmen Jermaine und James miteinander – auf der einen Seite ein Typ, der es durch Rap von der Straße geschafft hat, und auf der anderen derjenige, der schauen muss, wo er bleibt. Ich habe es damals als J. Coles Lebensweg in einem weniger wohlwollenden Paralleluniversum verstanden. Hier habe ich ähnliche Gefühle. Jemand – vermutlich Yasha oder Malik? - wendet sich frustriert Keemo, der seinen Weg aus dem Block gefunden hat, während die alten Homies noch immer auf der gleichen Treppe kiffen. Keemo soll nicht mehr in seinen Songs die alte Postleitzahl droppen, sagt der Erzähler, der sich jetzt eindeutig als Malik herausstellt. Was hier gerappt wird, lässt erahnen, welche inneren Konflikte Keemo bei den Gedanken an die manchmal romantisierte Vergangenheit in der Siedlung plagen. Malik spricht von der ihm zugedachten Rolle, die er im ersten Skit angerissen hat. Über allem schwebt die Frage, ob die Treue zur Hood tatsächlich wertvoller ist, als ebendiese hinter sich zu lassen. „Wir woll'n doch nur, dass du nach Hause kommst.“ Oder wollt ihr nicht auch ein anderes Leben, aber es ist zu aussichtslos und selbstzerstörerisch, um dieser Wahrheit Platz zu bieten?

Next-Level-Storytelling: Was J. Coles "4 Your Eyez Only" so besonders macht

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16. Blanko ft. Kwam.E | produziert von Funkvater Frank

Ja, Banger, was soll ich sagen? Ist mittlerweile allen bekannt, die es interessiert. Einzige neue Erkenntnis: Dürfte ein Malik-Track sein, wenn man sich die Themen vor Augen hält.

17. Ende | produziert von Funkvater Frank

13. September im ICE Richtung Süden, fünf Tage vor der Deadline für die Albumabgabe. Wir sind quasi live dabei, wie dieses Outro entsteht. Der Film ist vorbei. Jetzt kommt der Abspann, womöglich samt Credits. Ich müsste nochmal den Anfang hören, um zu checken, ob die Einführung auch so eindeutig von Karim Martin kam oder ob schon Yasha und Malik dabei waren. Er erwähnt zwei Homies von damals, adressiert explizit mindestens einen weiteren und rappt von Überlebensschuld, die ihn plagt, seit das Rap-Ding richtig läuft. Hart. Dann ein Sprung durch die Zeit. Karim und ein Homie sind außer Atem – vermutlich haben sie wieder irgendwen gerippt oder so, wir haben genug über die Vergehen vergangener Zeiten gehört während der letzten 16 Tracks. Wie kommt man klar in einer Welt voller Hunde? Ein letzter Sprung. Zurück in die Gegenwart mit einer Enthüllung. „Ich hab die Hände deines Großvaters, du sie wiederum von mir“ - Die letzten Momente können einem echt nahegehen. Unfassbares Finale, unfassbares Album.

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Goddamn. Die letzten Minuten bestätigen, was man vorher schon vermuten konnte. Dieses Album ist unfassbar persönlich. In „Vorwort“ ließ Keemo schon sehr tief blicken, die Erzählweise mit drei unterschiedlichen Figuren, die verschiedenste Aspekte seines Lebens vereinen, ermöglicht ihm noch viel mehr Offenheit - weil Karim, Malik und Yasha miteinander verschwimmen wie Wahres und Erfundenes. Das ist konzeptionell echt smart gemacht.

Die Reaktionen, die ich heute im Internet lese, sprechen dafür, dass ich mit meiner Euphorie nicht allein bin mit meiner fast verklärten Hiphop-Boomer-Romantik, in der zusammenhängende Alben und Kopfficks für die Kunst mehr bedeuten als hohe Streaming-Zahlen. Die Charts und superwichtige Playlists täuschen darüber hinweg, wie viel der Musik heutzutage fehlt. Das hier ist der Gegenentwurf zu diesem Fastfood-Zeitgeist. Fazit: Ich finde das Album ganz ok.

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