Grime-Geschichte, Deutschrap & mehr: Dizzee Rascal im Interview

In der globalen Rap-Community gibt es so viele Rapper, dass man sie alle wahrscheinlich gar nicht kennen kann. Aber es gibt nur wenige, die "Am Anfang" mit dabei waren – also die, die Genres und Bewegungen mitgeformt und geprägt haben. Für jede Szene kann man diese Pioniere an einer, maximal zwei Händen abzählen.

Einer dieser Pioniere ist Dizzee Rascal. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass es das UK-Genre Grime, so wie er heute ist, ohne Dizzee Rascal nie gegeben hätte. Und anders als andere Legenden ist Dizzee Rascal auch 20 Jahre später noch voll dabei. So hat er vor Kurzem sein Album "Don't Take It Personal" veröffentlicht. Einige Tage vorher hat sich unsere Redakteurin Alina mit ihm über Zoom zusammengesetzt und über die Geschichte von Grime, die Entstehung seines neuen Albums und europäischen Rap unterhalten.

Alina: Dein Album kommt am Freitag raus. Du bist jetzt seit 20 Jahren im Musikbusiness. Verglichen mit damals: Wie aufregend ist es wirklich, etwas zu droppen?

Dizzee Rascal: Es fühlt sich auch heute nicht an wie eine Routine. Die Musikindustrie hat sich im Vergleich zu damals ziemlich verändert. Alles ist jetzt viel digitaler. Wir planen hier und da auch ein paar analoge Sachen zu machen, zum Beispiel unsere Pop-Up Shows. Aber ansonsten gibt es keinen Prozess, an den man sich gewöhnen kann weil sich alles stetig ändert.

Ich freu mich aber total, das Album zu veröffentlichen, da ich sehr viel auf dem Album produziert habe. Ich freue mich fast mehr darauf, dass Leute meine Beats hören als meinen Rap.

A: Vor mehreren Jahre hast du mal ein Interview gegeben in dem du meintest, du seist eher ein Produzent als ein Rapper. Wie siehst du das heute?

D: Wenn ich mir jetzt zum Beispiel mein neues Album anschaue. Ich hab 7 oder 8 Songs dadrauf produziert. Aber auf allen Songs des Albums hab ich gerappt. Ich bin also mehr Rapper als Produzent. 

A: Wie war der Entstehungsprozess deines Albums?

D: Ich hab viele Teile des Albums zuhause aufgenommen, angefangen in 2020 und 2021. Das war cool, weil ich nicht das Gefühl hatte, mich hetzen zu müssen. Ich hab alles in meinem Home Studio gemacht und konnte mir viel Zeit lassen, vor allem hinsichtlich der Produktion. Ich konnte auch Geräte für die Produktion kaufen und viel ausprobieren. Ich hab zum Beispiel eher auf alte Synths zurückgegriffen. Ich hab auch Live-Musik eingearbeitet und verschiedene Programme benutzt, darunter Splice. Generell ist auf dem Album eine Mischung aus Live-Elementen und Sample-Elementen zu finden.

A: Kommen wir mal auf UK-Musik generell zu sprechen. Aktuell ist Hiphop aus den UK wohl größer denn je, wobei Grime nicht mehr das populäre Genre ist. Wie denkst du darüber?

D: Viele Gedanken dazu mache ich mir nicht. Ich verstehe, dass Musik zyklisch verläuft. Ich hab das Gefühl, dass Grime außerhalb der generellen Pop-Kultur und den Charts existiert. Grime hat sich aus Pirate Radio Sets (Anm. der Redaktion: illegale Radiostationen, die ohne Lizenz betrieben werden) entwickelt. Danach kamen die Raves. Und am Anfang gab es nur einige wenige, die überhaupt richtige Songs gemacht haben und einen Durchbruch schaffen konnten. Das macht Grime zu etwas Besonderem. 

Es gibt natürlich Rap-Songs, die größer sind als Grime-Songs. Viele Künstler, die erfolgreichen UK-Rap machen, haben auch mit Grime angefangen. Und das hat sich dann neu entwickelt, zu dem, was wir heute haben. Und das wird sich auch noch entwickelt. Und abgesehen davon, ist es auch nicht leicht, Grime zu definieren. Was ist Grime im Jahre 2024? Das weiß ich selbst nicht mal so genau.

A: Und wenn wir jetzt an die Anfänge von Grime zurückdenken: Gab es da einen Moment, an dem die Entwicklung von Oldschool zu Grime besonders deutlich wurde?

D: Es gab da so verschiedene Stufen, alles von dem Zeitpunkt an dem ich meinen Durchbruch hatte zur More Fire Crew, zu Kano und Lethal Bizzle. Das hat sich alles jeweils wie wichtige Momente angefühlt. Und dann auch Jahre später mit dem Release von "That’s Not Me" oder "German Whip". Da wurde die Szene rebooted. Grime ist zu mehreren Zeitpunkten abgeflacht und dann wieder größer geworden.

A: Aktuell ist UK-Drill ja sehr beliebt. Wenn du auf deine Kollegen und die Industrie schaust: Meinst du, Grime hat sich zu Drill entwickelt? Siehst du da überhaupt eine Verbindung?

D: Ich glaube, viele der jungen Rapper wären zu einer anderen Zeit bestimmt Grime-Künstler geworden. Manche von ihnen waren ursprünglich Grime-Artists. Aber eine Verbindung zwischen Grime und Drill sehe ich nicht. Nicht so wie zum Beispiel wie Garage und Grime oder Drum ’n' Bass und Grime. 

A: Wenn ich mir dein Album anhöre oder auch auf die Anfänge des Grimes schaue, dann sehe ich vor allem Abwechslung und Innovation. Da aktuell sehr viele Leute über den Tod von Hiphop spekulieren: Siehst du in der breiten Musiklandschaft ein Stagnieren des Sounds?

D: Wenn ich auf die breite Masse schaue, dann ja, aber ich denke teilweise liegt das auch an den Labels. Was die Musiklabels als wertvoll sehen und was sie pushen wollen, beeinflusst Künstler sehr. Das geht so weit, dass Künstler extra diesen Sound machen, in der Hoffnung erfolgreich zu werden. Deshalb gibt es aktuell nicht wirklich neue Sounds. Der letzte große neue Sound war London Drill. Da hat auch Pop Smoke drauf gerappt.

Wobei ich sagen muss, dass mir der Playboi Carti und Travis Scott Song sehr gefallen hat. Dieser Song hat sich anders und auch mutig angehört. Ich mag auch, was Lil Yachty macht - wenn wir jetzt mal über amerikanischen Hiphop sprechen. Weil der ja an der Spitze des Hiphops steht. Da gibt es immer noch hier und da interessante Sachen. Aber ansonsten fühlt sich vieles an Hiphop aktuell langweilig an.

Und vieles daran ist auch eher melodisch. Ich fände es gut, wenn es wieder mehr traditionellen Rap gäbe.

A: Ja, viele Künstler singen eher, als das sie rappen.

D: Ja, und das ist auch cool, aber, was ich ursprünglich an Hiphop geliebt habe, war Rap. Ich mochte den melodischen Sound als Bone-Thugs-N-Harmony ihn gemacht hat. Aber das war dann wiederum fast richtiges Singen.

Aber versteh mich nicht falsch, es gibt auch gute Artists. Ich mag, was Killer Mike und LP machen. Und um fair zu sein, wenn man international schaut und sich nicht von der Sprachbarriere abhalten lässt, gibt es sicherlich eine Vielzahl an Künstlern, die in ihrem eigenen Land interessante Sachen machen.

A: Findest du, Hiphop verliert einen Teil seiner Essenz, wenn Artists vermehrt singen statt zu rappen?

D: Nein, nicht unbedingt. Gesang gab es ja auch immer im Hiphop, wie beispielsweise bei Juvenile. Es fühlt sich nur so an, dass der Rap-Teil zur Minderheit geworden ist. Meiner Meinung nach bringt das Rappen mehr Persönlichkeit rüber als das Singen. Ein Lil Uzi bringt Persönlichkeit rüber, ja, aber das ist nicht vergleichbar mit einem DMX, Busta Rhymes oder Eminem.

A: Da wir über Oldschool Rapper sprechen: Was ist dein Lieblings-Album aus den 90s?

D: Wahrscheinlich "All Eyez On Me" oder "Mista Don’t Play: Everythangs Workin’" von Project Pat. Das sind die Alben, die ich jedes Jahr eigentlich immer ein mal höre. Da komme ich immer drauf zurück. 

A: Wir haben hier in Europa ja auch eine eigene kleine Bubble, wo Leute hier und da auch Länderübergreifend miteinander kollaborieren. Wie ist da eigentlich die Sicht in den UK dadrauf? Fühlen sich die Musikszenen der anderen europäischen Länder "ebenbürtig" an oder ist das zu weit weg?

D: Ich hab mal mit dem französischen Rapper Orelsan einen Song gemacht. Und das Album dazu wurde mit Diamant ausgezeichnet. Ich konnte es nicht glauben. Und jemand wie Central Cee macht das ganz gut, er macht Songs mit französischen Künstlern oder mit italienischen. Der hat das früh verstanden.

Da wir eh schon über deutsche Musik sprechen, lassen wir Dizzee Rascal noch auf den RIN-Track "Dizzee Rascal Type Beat" reagieren. Ihn erinnert der Song weniger an seine eigene Musik und eher an "A$AP Rocky or something". Aber eher "early A$AP" als den aktuellen Rocky. Was auch passt, wie wir im Gespräch feststellen: "Eros", das Album, auf dem der besagte RIN Song erschien, ist ein typischer 2010er-Track. Übrigens ist er Fan des Beats und freut sich, dass RIN auch tatsächlich rappt.

In dem Kontext spricht Dizzee Rascal auch über seine Sicht auf Deutschrap. Seiner Meinung nach hätte schon Oldschool-Deutschrap mit starken Beats geglänzt und das sei auch heute eine der Stärken der hiesigen Musik. Auch hätte Deutschrap früher den "shit together" gehabt als UK-Rap. 

Bevor wir das Interview beenden, fragt mich Dizzee Rascal noch nach weiteren deutschen Rapper*innen. Und in ganz klassischer Rap-Journalisten-Manier muss ich ihm natürlich Haftbefehl vorschlagen. Er hört sich zum Abschluss noch "Wieder am Block" an. Ihm gefällt der Song ziemlich gut. Das Video erinnere ihn ein wenig an die ärmeren Gegenden in London und er könne relaten. Auch sei er einfach Fan von rauem Rap und obwohl er den Text nicht versteht, sehe er über die Bilder im Video, dass es um harte Themen geht. Man merke, dass es düster und ehrlich ist. Laut ihm sei Haftbefehl "not just a rapper – he’s a lunatic first". 

Einige Szenen hinterlassen jedenfalls einen Eindruck: Dizzee Rascal erklärt, dass er enttäuscht sei von der UK-Szene, bei ihnen gäbe es solche harten Videos aktuell nicht.

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