Throwback 2012: 10 Deutschrap-Alben, die schon zwölf Jahre alt werden
Marsimoto, Haftbefehl und RAF Camora vor diversen Albencover

Wir schreiben das Jahr 2012: Der "Gangnam Style" wird zum viralen Internetphänomen ungeahnter Tragweite. Wer eine technische Revolution für die Hosentasche haben wollte, musste sich zwischen Samsung Galaxy S3 und iPhone 5 entscheiden. Nicht zuletzt schaute die ganze Welt dabei zu, wie ein Mann von der Stratosphäre gen Erdboden springt. Wie sagte man damals noch so schön? Yolo!

All das ist bereits zwölf Jahre her. Zwölf Jahre, in der sich eine ganze Menge geändert hat. Vom stetigen Wandel der Zeit blieb auch Deutschrap nicht verschont: Viele Namen haben sich gehalten, einige sind verschwunden. Vergleichbar mit heute ist die Szene aber kaum noch. Zeit, einen Blick zurück zu wagen und über zehn Alben zu sprechen, die in diesem Jahr ihren ersten zweistelligen Geburtstag feiern.

(Anmerkung: Der geschätzte Kollege Clark Senger hat ein paar Texte zu diesem Artikel beigesteuert. Die Autorenzeile findet sich am Ende jedes Absatzes.)

Haftbefehl – Kanackiş

Mit energischer Street Credibility aus 069 glänzte Baba Haft Anfang 2012 schon längst. Einen ganz so unanfechtbaren Ruf an der Spitze des neuzeitlichen Deutschrap-Olymps genoss der damals noch aufstrebende Rapper aber nicht. Chabos wussten halt einfach noch nicht, wer der Babo ist. Im Gegenteil: Das Internet war überladen mit JuliensBlog-Mitläufern, die nach der kritischen Silbenzähl-"Rapanalyse" des YouTubers nachplapperten, Haftbefehl sei der schlechteste Rapper Deutschlands.

Dieses kollektive Unterschätzen ist im Gegensatz zu "Kanackiş" jedoch ganz schön schlecht gealtert. Das zweite Solo-Album des Offenbacher Musikers lässt sich diskographisch nicht nur wie die Ruhe vor dem Sturm lesen, sondern kann auch heute noch den erhabenen Straßenrap-Gusto befriedigen.

Von "Braun, Grün, Lila", ein Abaz'sche Beat-Brett mit Sido-Featurepart über Kult-Klassiker wie "Ich & meine Sonnenbrille" bis hin zu "Cheech & Chong", Kiffer-Hymne mit "Mein Block"-Gedächtnishook von Jan Delay: Mit insgesamt 19 Songs liefert Haftbefehl ein grundsolides Album, das eigentlich deutlich mehr Liebe verdient hätte. "IHNAMG (Ihr habt nicht an mich geglaubt)" beschreibt Haftis damalige Stellung im Rapgame da ziemlich on point.

(Leon)

RAF 3.0 – RAF 3.0

Wir schreiben das Jahr 4 vor der neuen Zeitrechnung. Vier Jahre bevor "Palmen aus Plastik" und "Ohne mein Team" RAFs Karriere in ungeahnte Sphären katapultieren sollten. Nach einem Album und zwei Mixtapes als RAF Camora brauchte die Kreativität des Wieners bereits einen zusätzlichen Channel. RAF 3.0 rückte Reggae, Dancehall und seine Umwelt statt des persönlichen Struggles in den Fokus.

Gläserne Menschen, lebende Maschinen ohne Gefühle, digitale vermeintliche Freundschaften, falsches Lächeln im ganzen Internet – RAFs Momentaufnahme einer Welt, die mit Smartphones und sozialen Medien grade in eine neue Ära gestartet ist, fällt wenig optimistisch aus. Dass der Song am erfolgreichsten wird, in dem er sich wünscht, "Dumm & Glücklich" zu sein, spricht Bände. Nach dem Blick ins Innere auf den introvertierteren Tapes verspricht auch die Welt da draußen nicht die Bedeutsamkeit und das Licht, nach denen der Musiker sich so sehr sehnt. Aber immerhin: Der karibisch-inspirierte Schritt Richtung Pop ist im Nachhinein ein Vorbote für eine Zukunft, die in den Farben diverser Edelmetalle glitzert.

Bis heute bewahren viele 3.0-Tracks eine dunkle Tiefe, von der man sich einsaugen lassen kann. Inhaltlich funktioniert das durch RAFs geschärften Blick auf eine Welt im Wandel, musikalisch durch catchy Hooks, die immer wieder in desillusionierten Parts ihr Gegengewicht finden.

(Clark)

MoTrip – Embryo

Vor allem an der Seite von Kool Savas und Konsorten dürften Deutschrap-Fans den Namen schon länger auf dem Schirm gehabt haben, den Startschuss für MoTrips anerkannte Solo-Karriere dürfte aber sein Debüt "Embryo" darstellen. Selten fiel die Resonanz zu einem Album so einseitig aus. Kritiker:innen, Fans und solche, die es noch werden sollten, einigten sich: Alles an diesem Album bockt. Keine Diskussion.

Die raue Stimme in Verbindung mit der cleanen und zeitgemäßen Produktion. Die sehr persönlichen und bewegenden Texte, die einen tiefen Einblick in sein Leben und seine Gedanken ermöglichen – und teilweise zu einem schweren Schlucken bewegen ("Embryo"). Die sprachlichen und technischen Spielereien, mal zieht er denselben Endreim eine ganze Strophe lang durch ("Kennen"), mal baut er Songs auf cleveren Wortspielen und Doppeldeutigkeiten auf ("Schreiben, Schreiben", "Was mein Auto angeht"): MoTrip bedient so ziemlich jede Sparte, die das Herz eines enthusiastischen Deutschrap-Hörers im Jahre 2012 höherschlagen lässt.

Auch heute lohnt sich der Ausflug in das inhaltlich wie technisch anspruchsvolle Album. Vor allem, weil sein bis dato letztes großes Solo-Projekt "Mama" ebenfalls schon gute sieben Jahre auf dem Buckel hat – die Musikkarriere von Mo Dirty Shit Trip lebt eben nach dem Mantra "Qualität über Quantität".

(Leon)

Celo & Abdi – Hinterhofjargon

Hafti hatte 2010 die Tür zum Hinterhof per Pushkick, mit glänzendem Messer und glänzender Fresse, weit aufgetreten. Er schildert eine abgefuckte Welt, die keine Gnade kennt. All das kennen auch Celo & Abdi, aber die Jungs nehmen uns auch mit in andere Ecken der Main-Metropole. Spätestens mit "Hinterhofjargon" legt das Duo den Grundstein für den Kultstatus, den beide heute genießen.

Klar, der Humor spielt eine große Rolle. Ché & A rattern mit cousin-artig zwinkerndem Auge durch eine mehrsprachige Anleitung, wie man auf den Straßen Frankfurts durchs Leben kommt, ohne dabei den Spaß zu verlieren. Dazu gehören Anspielungen auf Fußballer, Serien, Filme, Games und vieles mehr. Da können auch "Franz und Hans" mitreden – Celo & Abdi öffnen die neue Straßenrap-Welle damit für ganz neue Menschen, die bei Hafti vielleicht noch nicht mitgekommen waren.

Das Album ist wie aus einem Guss, M3 hat von vorne bis hinten für den richtigen Bounce und eine bunte Palette kreativer Samples gesorgt. Classics wie "Besuchstag", "Parallelen" oder "Frauen" bedürfen keiner weiteren Vorstellung – ein authentisches, kurzweiliges Album voller Highlights.

(Clark)

Cro – Raop

Blickt man aufs Jahr 2012 zurück, dann kommt man nicht um Cro herum. Aus Bobby Hebbs "Sunny" bastelt der damals noch Anfang 20-Jährige seinen Erfolgshit „Easy“, mit dem er Ende 2011 seinen großen Durchbruch schafft. Plötzlich war der Künstler mit der Pandamaske aus der deutschen Musiklandschaft kaum mehr wegzudenken. Cro war so etwas wie das symbolische Aushängeschild der mal mehr, mal weniger geliebten, in jedem Fall aber sehr präsenten Hipster-Subkultur seine Fanbase entsprechend jugendlich. Denkt man an die Anfänge des Musikers zurück, so kommen quasi wie von allein Erinnerungen an eine Zeit hoch, in der jedes Instagram-Bild mit prototypischen Filtern samt übergroßer Vignette in die purpurne Unkenntlichkeit verzerrt wurde. Irgendwie schön.

Im Sommer 2012 liefert Cro mit "Raop" dann sein heiß erwartetes Debütalbum. Und was drauf steht, ist bekanntermaßen auch drin: Nach vorangegangenen Releases von Marteria und Casper zeigt nun auch Cro par excellence, wie die Symbiose aus Pop und Rap vonstattengehen kann. Er hält die Fahne hoch für ein neues Subgenre, das sich durch ungewohnte Leichtigkeit definiert. Daran findet nicht jeder Rap-Fan Gefallen. Heute muss man aber anerkennen, dass das für frischen Wind in der Szene sorgte und Hiphop insgesamt wieder relevanter für die Öffentlichkeit wurde. Songs wie "Du" oder "Einmal um die Welt" liefen rund um die Uhr im Radio, das ganze Album lässt sich bis heute immer mal wieder in den Charts finden.

(Leon)

Bonez MC – Krampfhaft kriminell

"Ich hatte immer nur ein Ziel: Ich wollte berühmt werden" - Das sind die ersten Worte, die man auf Bonez' Solodebüt von 2012 zu hören bekommt. Wenn er damals gewusst hätte, was ihn erwartet, wäre er wohl aus den Lacoste-Latschen gekippt.

Dabei deutet sich schon hier immer wieder an, wie viel kreative Energie in diesem 1,98m-Koloss steckt. Mit den vermeintlichen Regeln, die soundtechnisch für authentischen Straßenrap gelten, hat er nicht viel zu schaffen. Auf "Mein Leben", dem bis heute am häufigsten gestreamten Song der LP, droppt er eine autotunig-melodische Hook auf den Piano Chords von Dr. Albans Eurodance-Hit "It's My Life" (1992). Aus heutiger Perspektive ein Ausblick auf seine wilde Reise durch die Popkultur-History im ausklingenden Jahrtausend. Ob ATC, Eiffel 65, die Bomfunk MCs, Alizée oder diverse Dancehall-Artists: Kaum jemand puzzelt so routiniert die augenscheinlich widersprüchlichsten Inspirationen zusammen, ohne dabei seinen eigenen Charme zu verlieren. Auch elektronische Stampfer-Tracks oder rockige Gitarren-Riffs fanden auf dem Album ihren Platz.

Aus dem krampfhaft experimentellen (no Front though, der Joke bietet sich an) Ansatz entwickelte Bonez in den nächsten Jahren – erst mit Jambeatz und Co., später bekanntermaßen mit RAF – immer pointiertere und stilsicherere Sounds. Wer einen noch sehr roughen Einblick in Bonez' frühes Schaffen bekommen möchte, dem wird "Krampfhaft Kriminell" heute so manche Schmunzler und Ohrwürmer verpassen.

(Clark)

Max Herre – Hallo Welt!

Max Herre, Hiphop-Urgestein aus Stuttgart, hat schon zu frühen Freundeskreis-Zeiten sein Händchen für radiotaugliche Hits der feineren Sorte bewiesen. Vermutlich müssen eingefleischte Fans noch heute immer, wenn es regnet, an ihre ganz persönliche "A-N-N-A" denken. Viele, viele Jahre nachdem er erstmals Musik aus dem Schoß der Kolchose veröffentlichte, schlägt Max Herre Solo-Wege ein. Mit "Hallo Welt!" liefert er 2012 sein bereits drittes Album auf eigene Faust. Mitten an der Genre-Schnittstelle zeigt er, wie gut sich Conscious Rap mit Pop-, Funk- und Soul-Elementen verbinden lässt. Und auch wenn er mit "Athen" 2019 einen mehr als würdigen Nachfolger lieferte: "Hallo Welt!" klingt noch immer wie das definitive Max Herre-Album, das vor Abwechslung überquillt.

"Wolke 7", ein tiefgründig-emotionaler Radiohit, wird gefolgt von laidback-Sound mit Tua und ein umso dynamischeres "Einstürzen Neubauen" an der Seite von Samy Deluxe. Starkes Storytelling gibt es auf "Berlin - Tel Aviv", eine Geschichte über Vertreibung und Flucht. "Rap Ist" ist aus dieser Zeitperiode des Deutschraps kaum wegzudenken und stellt der Hörerschaft einen hungrigen Megaloh vor, der im Folgejahr sein wohl wichtigstes Album droppen wird. "Hallo Welt!" chartet sogar auf der Eins und sorgt dafür, dass Max Herre Ende 2013 sein eigenes MTV Unplugged spendiert bekommt.

(Leon)

Genetikk – Voodoozirkus

Ein Jahr, bevor Genetikk mit "D.N.A." einen modernen Deutschrap-Klassiker releasen werden, feilen Sikk und Kappa (ehemals Karuzo) bereits ausgiebig an dem Fundament ihres Trademark-Sounds. Auf "Voodoozirkus" nehmen die beiden die Hörerschaft mit auf eine bizarre, fast schon psychopathische Reise in die kopfnickende Düsternis. Bis auf einen Gastbeitrag vom damaligen Selfmade-Kollegen Favorite erledigt das Duo das im Alleingang.

Das Album ist durch und durch rough und überzeugt sowohl mit Atmosphäre als auch mit gut getexteten Battlerap-Lyrics. Eine mehr als stabile Alternative für all diejenigen, die eine gewisse VBT-Müdigkeit verspürten – das Online-Turnier hatte 2012 seine absolute Hochphase erreicht. "Sorry" und "König der Lügner" bleiben bis heute essenzielle Genetikk-Tracks, mit deren Hilfe man die Kunst des Duos besser verstehen kann.

(Leon)

Marsimoto – Grüner Samt

Bevor er die Wolken lila werden ließ, setzte Marten Laciny im Frühjahr 2012 erneut die grüne Brille auf. Zwischen "Grüner Samt" (eine Anspielung auf Torchs "Blauer Samt") und dem Vorgänger "Zu zweit allein" von 2008 lagen nicht nur mehr als drei Jahre, sondern auch das Top-10-Album "Zum Glück in die Zukunft" von Marteria. Neue Vorzeichen für den grünen Stammgast in Martens Herz und Lunge. Wie gut kann ein Spagat zwischen Arena und vollgequalmtem Bassbunker funktionieren?

Stand 2012: sehr gut. Noch viel mehr als in der Zeit vor "ZGIDZ" kristallisierten sich die Vorteile heraus, die Marsi gegenüber Marteria hat. Noch suggestiver reiht er Wortspiel an Wortspiel, noch absurder sind die Perspektiven, die er in einzelnen Tracks einnehmen kann. In einem Song ist Marsi ein Punkt, der unheilvoll von einem Promi zum nächsten springt, in einem anderen blickt er durch die Augen eines Wals; mal geht es um diverse Ängste, mal macht er auf einer einsamen Insel einen Basketball zu seinem besten Freund.

Dank des immer irgendwie neuen und eigenen Sounds von Kid Simius, Dead Rabbit, Robot Koch, Nobodys Face und The Krauts hat das Album auch heute noch einen hohen Wiederhörwert. Vom Intro mit starken Reggae- und Dub-Einschlägen über harte Gitarrenriffs und – typisch für Marsi! – wilde elektronische Spielereien bietet "Grüner Samt" musikalisch eine ähnlich breite Palette wie inhaltlich.

(Clark)

Herr Sorge – Verschwörungstheorien mit schönen Melodien

Genau so schnell, wie es aufgetaucht ist, ist es wieder von der Bildfläche verschwunden: Inmitten seiner großen Solo-Projekte „SchwarzWeiss“ (2011) und der „Männlich“-Trilogie (2013/2014) hat sich Samy Deluxe mit Herr Sorge ein äußerst experimentelles Alter Ego zugelegt. Zugegeben: „Verschwörungstheorien mit schönen Melodien“ ist ein Albumtitel, der heutzutage zwecks begrifflichem Beigeschmack vielleicht nicht mehr ganz so gut funktionieren würde.

Doch auch seinerzeit wurde das Album eher mit geteilter Meinung aufgenommen. Das lag aber nicht am Titel, sondern am kompletten Look and Feel der Künstlerfigur: Autotune voll aufgedreht, synthlastige Instrumentals, geschminktes Steampunk-Auftreten. War Deutschland einfach noch nicht ready für Herr Sorge?

Nun ja, großartige Erfolge hat das Projekt auch im Nachhinein nicht gefeiert. Seiner Zeit weit voraus fühlte es sich aber allemal an. Und das, obwohl das Album rein inhaltlich betrachtet den Zahn der Zeit eigentlich mehr als nur gut traf. Erinnern wir uns: Herr Sorge zeigte uns "Fröhliche Weltuntergangsmusik" in dem Jahr, in dem der Maya-Kalender das Ende der Welt prophezeite. Wer vergessen (oder ganz bewusst ausgeblendet) hat, was manch jemand von diesem Jahr befürchtete, muss hier nur einen ganz bestimmten Roland Emmerich-Film zurate ziehen.

(Leon)

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