Neonschwarz: Deutscher Rap ist auserzählt

Hiphop ist keinesfalls tot, wie NY-Veteran Nas bereits vor mehr als einem Jahrzehnt verkündete, als er sich provokant und wohl auch nicht ganz ernst gemeint auf den damaligen Crunk-Hype bezog. Oder hatte Nasir Jones etwa doch Recht? Immerhin bildet das Dirty South Genre die Basis des heute allgegenwärtigen Trap.

Ein Blick auf die Charts lässt jedenfalls aus kommerzieller Sicht keinen Platz für Zweifel: Ob Streaming-Rekorde, Nummer-1-Hits oder die meisten Singles zum selben Zeitpunkt in den Top 100 – keine Woche vergeht in der Rap über Gucci-Täschchen, Para-machen oder einer jeder "Nachdenkliche Sprüche mit Bildern"-Mutmachlyrik in Deutschland nicht ordentlich Kasse gemacht wird. Ist Deutschrap 2018 also mehrheitlich eine inhaltslose Phrase, die sich ausschließlich Wu-Tangs "get the money" aus deren ikonischem "C.R.E.A.M." verschrieben hat? Im besten Falle aufgelockert durch Comebacks meiner alten Jugendhelden der späten 90er, deren Rap für alternde Akademiker-Kinder aber eben auch schon seit mehr als einem Jahrzehnt auserzählt ist und die mit halbgaren Comeback-Alben und ausgiebigen Touren auch meine Vergangenheit in das Jetzt holen, ohne dass sie eine Zukunft hätte. Soll das also besser sein?

Chemnitz, September 2018. Als Folge der Vereinnahmung des Todes eines 35-jährigen Deutschen durch rechte- und rechtspopulistische Kräfte wenige Tage zuvor, treten Rock- & Rapkünstler vor 65.000 Menschen bei einem Konzert gegen Rechts auf – doch die chartsdominierenden Rapper dieser Tage sucht man nicht nur im Line-Up vergeblich. Merklich ruhig sind die, die Millionen Fans mit Tracks, Videos und Interviews erreichen - und das trotz oft eigenen ausländischen Wurzeln und der künstlerischen Betätigung in einem Genre, das seinen Ursprung in den Ghettos US-amerikanischer Großstädte hat. Als Musik von Marginalisierten für Marginalisierte. Zählt Deutschrap 2018 lieber Scheine, wie Rooz seinerzeit auf Twitter fragte, als die Stimme jenseits eines Disses zu erheben?

Dass es auch anders geht, zeigt die Formation Neonschwarz – abseits des Mainstreams. Ein Gespräch über den Zustand von Hiphop in 2018 und die eigene Note.

Hamburg, Ende November 2018. Kein Nightliner, erst Recht kein AMG. Koffer, Taschen, Merch wie beim Tetris platzsparend gestapelt, damit alle Neun reinpassen: fahr'n, fahr'n, fahr'n auf der Autobahn, heute im Sprinter mit Neonschwarz nach Münster.

"Man muss kein Gangster sein, um Hiphop zu sein. Hiphop heutzutage ist so ausdifferenziert. Nimm zum Beispiel jemanden wie Logic, der äußerlich wie ein pubertierender Teenager daherkommt, aber mega krass rappen kann und Vorbild für Hunderttausende ist", wird Spion Y, DJ der Gruppe, später im Backstage des Münsteraner Clubs Gleis 22 sagen. "In Deutschland ist dieses Straßenrap-Ding immer noch populär, in Amerika sieht das mittlerweile anders aus."

Seit ihrer Gründung 2010 arbeitet die Formation um Marie Curry, Johnny Mauser, Captain Gips und Spion Y an ihrem Entwurf deutschsprachiger Hiphop-Musik. Zeckenrap nennen sie diesen zuweilen – ihre politische Gesinnung ist unüberhörbar, den Oberlehrer-Zeigefinger sucht man bei ihnen allerdings vergeblich: "Früher waren wir alle in der normalen Hiphop-Szene am Start, dann kam eine Politisierung und wir waren eine Zeit lang nur in autonomen Zentren unterwegs, bevor wir in gewisser Weise die Scheuklappen wieder ein bisschen abgelegt haben und vor allem für musikalische Qualität begonnen haben zu sorgen", umreißt Captain Gips die musikalische Entwicklung der Band, zu der auch das selbstbetitelte, indizierte Download-Album gehört, dass noch aus Duo-Zeiten der Band entstammt und den Track "Flora bleibt!" enthält. 

Das erste Mal auf der Bühne standen die Vier als Gruppe im Anna&Arthur, einem selbstverwalteten Club in Lüneburg, eine knappe halbe Stunde Fahrtzeit südlich der Hansestadt gelegen, in dem sie auch die diesjährige Tour eröffnet haben. "Spion und ich", erläutert Johnny Mauser die Anfänge der beiden Mitglieder, "kennen uns noch aus Bad Segeberg. Wir sind schon lange in der Szene unterwegs, waren unter anderem früher in der  Crew Laute Ansage aktiv. Zu der Zeit haben wir unter anderem Jams organisiert, bei einem davon Captain Gips gebucht, der damals schon weiter war als wir und mit dem ich dann später Neonschwarz ins Leben rief. Marie Curry und ich haben uns dann während des Studiums in Lüneburg kennengelernt, Spion stieß auch erst später hinzu, auch wenn wir uns schon lange kannten."

Etwas mehr als zwei Stunden sollen wir laut Navi nach Münster brauchen, am Ende sind es viereinhalb. Stau, Stau, Stau auf der Autobahn. Mit an Board neben der Band: der Tourmanager, Merchandiserin, zwei Roadies und ich. Die Band spielt seit jeher nur an den Wochenenden, man teilt sich die Zeit zwischen Familie, Teilzeitjobs und eben dem Musikmachen auf. Mit aktuell populärem Straßen-, Cloud- oder Trap-Rap hat die Musik von Neonschwarz erst recht nichts zu tun, aber auch mit dem 90er-Jahre-AStA-Rap weißer Mittelstandskids, der von Hamburg über das ganze Land schwappte, hat die Hiphop-Variante der allesamt aus Norddeutschland stammenden Mitglieder nicht viel gemein – Eins Zwo-Sample in "Der Opi aus dem zweiten Stock" hin oder her.

Doch gerade an dem Track, der von einem zurückgezogen in Deutschland lebenden Shoa-Überlebenden handelt, lässt sich aufzeigen, was Hiphop-Deutschland 2018 größtenteils abhandengekommen scheint, falls es überhaupt jemals da war: Es sind die Inhalte, die fehlen. Die neuen, die echten, die, die Tiefgang haben. Die, die noch nicht auserzählt sind. Hiphop hierzulande ist weder innovativ (wie es der bereits genannte Logic, ein Kendrick Lamar oder Tyler The Creator sind) noch subversiv, wie es US-Rap, auch Gangsta-Rap, zumindest in den Anfängen mal war. Es fehlt an reflektierter Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Umständen, an Aspekten, die Wenige in den letzten 30 Jahren aufgriffen und mit denen noch weniger Erfolg hatten.

Advanced Chemistry sind zu Recht durch das Comeback der Beginner in den Fokus des Mainstream-Publikums geholt worden – 30 Jahre nach ihrer Gründung. Von zurückgeholt kann ja keine Rede sein. Anarchist Academy, Microphone Mafia, Chaoze One – wer erinnert sich noch?

"Freundeskreis waren ja auch schon sehr politisch, 'Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte' zum Beispiel, aber auch darüber hinaus. Halt nicht so parolen-politisch, sondern mehr auf den zweiten Blick durch die Geschichten, die sie erzählt haben", merkt Marie Curry an. Neonschwarz thematisieren, was kaum jemand behandelt, uns alle aber angehen sollte. Ansonsten würden "neolibarele Erzählungen dominieren", wie die Rapperin zu bedenken gibt.

Muss Hiphop heutzutage also zwangsweise politisch sein, um Neonschwarz zu gefallen, weil er es in den Anfangszeiten war oder weil politischer eben gemeinhin als gehaltvollerer Inhalt angesehen wird als das Rappen über Koks, Para und N*tten? Mitnichten. Auch Neonschwarz selbst behandeln andere Themen. Der Erfolg von Neonschwarz lässt sich nicht nur auf textliche Inhalte zurückführen, sondern vor allem auch darauf, dass sie sich den Sticker "Hiphop" der klassischen Vier-Säulen-Prägung nie angeheftet haben und damit eben auch nicht dessen Dogmen. So hat ihre Hiphop-Variante beispielsweise keine Scheu vor Pop-Appeal, vereint diesen aber mit Oldschool Scratches – nicht, um die Vergangenheit aus Traditionsbewusstsein in die Gegenwart herüberzuretten, sondern weil es gefällt.

Auch das zeichnet die Gruppe aus: Sie macht, worauf sie Lust hat, nicht das, was angesagt ist – wie es andere Künstler tun, die kurzfristige, aber sichere, Verkaufserfolge über eine künstlerische eigene Note stellen. Im Tourbus läuft derweil Anderson .Paak, eine Art Rapper, wie es ihn hierzulande nicht gibt – jedenfalls nicht annähernd so erfolgreich. „Man sieht deutschen Rappern die Verbissenheit leider oft an. Sie wollen so klingen wie andere. Dafür lassen sie sich aber nicht nur von Vorbildern inspirieren, sondern kopieren sie lediglich – das funktioniert unter künstlerischen Gesichtspunkten nicht, weil es nicht aus ihnen heraus kommt, nicht aus ihrem musikalischen Wissen", findet Spion Y, dem die kreative Eigenleistung bei vielen Künstlern fehlt. "Das ist jetzt kein hiphop-eigenes Phänomen. Das kann man auch in anderen Genres beobachten, auch im Kino, beim Film", weiß er allerdings auch.

Das Gleis 22 ist eine Instanz über Münster hinaus, wenn es um Livemusik geht. Davon zeugt auch der Umstand, dass die Location mehrfach in den Zeitschriften Intro und Visions zum beliebtesten Club des Landes gewählt wurde. Das Prunkstück des städtischen Jugendinformations- und Bildungszentrums kommt eher wie ein Jugendzentrum, als wie ein Konzertvenue daher. Neonschwarz spielen bereits zum zweiten oder dritten Mal hier, wie mir Gips während des Aufbaus erzählt. Bei dem packt die Band noch selbst mit an – genauso wenig eine Selbstverständlichkeit, wie überhaupt in einem Laden wie dem Gleis22 zu spielen. Neben dem Anna&Arthur ist der Club auch einer der kleineren Läden der Tour, das Konzert ist dementsprechend längst ausverkauft.

Neonschwarz ist es wichtig, Kontakt zu Fans und Szene halten, die Verbindungen in die Anfangstage der Band nicht zu kappen. Dass die Fans von einer linkspolitischen oder zumindest alternativ wahrgenommenen Formation die Künstler automatisch anders und unbeabsichtigt falsch wahrnehmen, erfahren Neonschwarz immer wieder. "Wir können nicht jedes Benefiz-Konzert spielen, nicht in jedem JUZi einen Tourstopp einlegen. Wir versuchen, so gut es geht, solche Anfragen zu berücksichtigen, aber es ist schlicht nicht möglich, alle Anfragen dieser Art umzusetzen. Da hört man dann auch oft zwischen den Zeilen Verwunderung darüber heraus. Oder, wenn wir gefragt werden, wo wir übernachten, und die Antwort dann 'im Hotel' ist, anstatt 'privat'", berichtet Spion Y.

Wer hier Ausverkauf wittert, hat nicht verstanden oder ignoriert, dass auch eine Band mit Haltung wirtschaftlich arbeiten muss. Es ist eben dieser Mix aus Haltung, die nicht unbedingt politischer Natur sein muss, und künstlerischer Offenheit, der für die eigene Identität sorgt – und dessen Fehlen die Musik vieler anderer Künstler zu einer Kopie macht anstatt einem eigenen und eigenständigen Werk. Das Publikum in Münster weiß das zu schätzen und Band sowie Crowd zeigen einmal mehr, dass sie gemeinsam einen Laden zerlegen können – dafür braucht es weder politische Sprengkraft, noch eine aufwendige Bühnenshow. 

Fotos: Kevin Goonewardena & Manuel Guddat

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Autoreninfo

Kevin Goonewardena wurde mit deutschsprachigem Hiphop der End-90er sozialisiert. Er lebt als Freier Journalist und Kulturschaffender in Hamburg und verfasst vor allem Hintergrundberichte und Portraits über Milieus und musikspezifische Themen für so unterschiedlichen Publikationen wie HHV.de, Vice, intro, Mit Vergnügen, zweikommasieben, Kaput und seit neustem auch für Hiphop.de Außerdem veranstaltet er Kinderkinovorführungen, hat eine Lesepatenschaft und steht manchmal hinterm Tresen.